Heise Top NewsÜber technische Großprojekte spricht man meist, wenn sie besonders grandios sind oder besonders lange schiefgehen. Die Pyramiden von Gizeh wären ein Beispiel für ersteren, der Berliner Flughafen und deutsche Funklöcher sind Lehrstücke für zweiteren Fall. Fehlende oder falsch geplante Infrastruktur fällt auf – doch geht alles nach Plan, machen die Ingenieure nur ihren Job. Dennoch verblüfft es, wenn man hört, dass innerhalb von zwei Tagen Arbeit und nach nur vier Monaten Planung geschätzt 11.500 Meilen (etwa 18.500 km) Schienen und Fahrzeuge auf eine neue Spurweite umgestellt wurden – ohne Verbrennungsmotoren, Wirtschaftswissenschaften, Computer und agile Projektmanager in den USA im Jahr 1886. Um die Größenordnung des Unterfangens einzuordnen: Derzeit beträgt die Länge des gesamten Schienennetzes – der komplette Fern-, Nah- und Güterverkehr – in Deutschland etwa 20.000 Meilen (gut 33.000 km). Was fehlt: In der rapiden Technikwelt häufig die Zeit, die vielen News und Hintergründe neu zu sortieren. Am Wochenende wollen wir sie uns nehmen, die Seitenwege abseits des Aktuellen verfolgen, andere Blickwinkel probieren und Zwischentöne hörbar machen. mehr anzeigen Und ungeachtet der der Bahn zugedachten Rolle einer umweltfreundlichen Zukunft: Ende des 19. Jahrhunderts stellte die Schiene das essenzielle, da in der Kapazität und Geschwindigkeit dominierende Verkehrsmittel über Land dar. Umso schwerwiegendere Folgen ergaben sich aus solch simplen Fakten wie der gewählten Spurweite. In der Regel verwendeten die Eisenbahngesellschaften aus dem Norden der USA das englische Maß von vier Fuß und 8,5 Zoll, während im Süden fünf Fuß vorherrschten. Frei gewählte Spurweiten in einem freien Land Diese Spurweiten ergaben sich oft aus Konventionen, Ingenieur Horatio Allen der South Carolina Canal & Rail Road Company hatte sich für eine Spurweite von fünf Fuß entschieden und die meisten Eisenbahnen im Süden folgten später seiner Entscheidung. Trafen Strecken unterschiedlicher Spurweiten aufeinander, mussten Arbeiter die Fracht umladen oder die Wagons umspuren – in jedem Fall ein zeit- und kostenintensives Prozedere. Bahnlinien der Südstaaten zu Beginn des Bürgerkriegs, die Spurweite von fünf Fuß dominierte bereits 1861. Lange gab es jedoch kaum Druck, dies zu ändern. Norden und Süden der Vereinigten Staaten tauschten einfach nicht genug Waren aus. Zwar legte Washington 1863 mit dem Pacific Railway Act defacto eine Spurweite fest, doch da schossen Norden und Süden schon seit zwei Jahren aufeinander. Nach dem Krieg und mit der zunehmenden Industrialisierung sowie dem Ende der zuvor im Süden dominierenden Sklavenwirtschaft entwickelten sich die unterschiedlichen Spurweiten jedoch immer mehr zu einem Hemmnis. Chicagos wirtschaftliche Bedeutung für die gesamten USA wuchs im späten 19. Jahrhundert ebenfalls und so entschieden sich zumindest zwei die Stadt mit dem Süden verbindende Gesellschaften – die Illinois Central Railroad und die Mobile & Ohio Railroad – dazu, auf die Standardspurweite umzusteigen. Hierdurch erhöhte sich der Konkurrenzdruck auf die anderen Unternehmen im Süden enorm. Die restlichen Unternehmen im Süden beschlossen also Anfang 1886, die Spurweite gemeinsam zu ändern. Bei ihrem Treffen entschieden sie sich für den neuen Standard – vier Fuß und neun Zoll, ein halbes Zoll mehr als die meisten Gesellschaften im Norden verwendeten. Allerdings waren viele Strecken mit der Pennsylvania Railroad verbunden. Ausgerechnet sie hatte sich auf vier Fuß und neun Zoll als Spurweite festgelegt. Schon während der Planung gab es Gegenstimmen, die diese Entscheidung erfolglos als kurzsichtig kritisierten. Vier Monate Vorbereitung, zwei Tage Arbeit Schon am 31. Mai desselben Jahres sollten die Arbeiten beginnen und nach nur zwei Tagen vorüber sein. Um die Spurweite zu ändern, mussten Arbeiter zumindest eine der Schienen neu verlegen. In der kurzen verbleibenden Zeit wurden vorab neue Nägel an die richtige Stelle des neuen Gleises getrieben und einzelne der alten Nägel bereits entfernt. Manche Fahrzeuge erhielten schon jetzt neue Achsen, bei denen sich die Räder mit einem zur rechten Zeit entfernten Ring schnell anpassen ließen. Erfindungen wie die Ramsey-Umspuranlage beschleunigten zwar den Umstieg zwischen unterschiedlichen Spurweiten, konnten jedoch ihre Nachteile nicht wettmachen. Doch trotz all dieser Vorbereitungen: Der Betrieb im Süden ging weiter und den Großteil der Arbeit würden die Kolonnen in kürzester Zeit schaffen müssen. Einige Gruppen erhielten einen bestimmten Abschnitt, andere begannen an einem bestimmten Punkt und arbeiteten sich vorwärts, bis sie die nächste Kolonne erreichten. Die Männer entfernten die alten Nägel, brachten die Schienen an ihre neue Position und hämmerten sie wieder fest. Andere Ingenieure wechselten im Depot die Achsen und Räder der Fahrzeuge aus. Nach nur zwei Tagen fuhren die Züge wieder – auf vier Fuß und neun Zoll Spurweite. So glatt ging sie über die Bühne, dass detaillierte Informationen über solch eine grundlegende und massive Umstellung der Infrastruktur heute nur schwer zu finden sind. Zeitungsartikel schrieben von einer rationell ausgeführten Arbeit, die so unauffällig erledigt worden sei, dass die Öffentlichkeit sie kaum bemerkt habe. Auch sei der reguläre Verkehr kaum unterbrochen gewesen und selbst Unfälle hätte es keine gegeben. Historische Vergleiche sind schwer – und dennoch ist es erstaunlich, wie schnell und gründlich so manche Ingenieursleistung trotz augenscheinlich primitiver Technik vor langer Zeit vollbracht wurde. Und vermutlich genau deswegen, und weil es sich bloß um als selbstverständlich angenommene Infrastruktur handelt, erinnern sich heute nur Wenige an diese Leistungen. Die Ironie der Geschichte: Nur ein knappes Jahrzehnt später konsolidierten sich unter dem Namen Southern Railway viele der Eisenbahngesellschaften im Süden und stieg schließlich ebenfalls auf die Spurweite von vier Fuß und 8,5 Zoll um. (fo) Zur Startseite

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